Die heute in westlichen Ländern selbstverständliche Differenzziehung zwischen Mann und Frau, heterosexuell und homosexuell, und die hierarchische Setzung dieser Differenzen sind historische Konstrukte, die durch dekonstruktivistische Analysen als solche entlarvt werden können. Darüber hinaus handelt es sich dabei um Absolutheiten, welche die Lern- und Entfaltungsmöglichkeiten aller Menschen einschränken, und ihren Raum begrenzen, um eine einzigartige (sexuelle und geschlechtliche) Persönlichkeit zu entwickeln.
Die Erziehungswissenschaftlerin Jutta Hartmann schreibt in „Vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform“ (2002), dass in einigen gesellschaftlichen Bereichen Dynamisierungen vorzufinden seien, aber dass die Wahlfreiheit von Menschen abnehme, wenn es um Sexualität und Geschlecht gehe. Entgegen auffindbarer gelebter vielfältiger Lebens- und Familienformen existieren hier weiterhin normative Anforderungen, gesellschaftliche Erwartungen und rechtliche Vorrangstellungen.
Die Selbstverständlichkeit binärer, hierarchisch angeordneter Geschlechter und der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit steht im Fokus der Kritik der Queer Theory. Die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit stellt die Basis hierarchischer Geschlechterverhältnisse dar, da mit den Kategorien Sexualität und Geschlecht in sozialen Systemen sowohl Unterschiede als auch Grenzziehungen und Hierarchien einhergehen. Im heteronormativen Denken wird Heterosexualität als gesellschaftliche Norm gesetzt, die Homosexualität als ‚das Andere‘ zur Bestätigung von Heterosexualität benötigt, und darin Vorstellungen von essentiellen und damit lebenslang gleichbleibenden Identitäten transportiert.
Nach einem dekonstruktivistischen Geschlechterverständnis haben Menschen nicht einfach ein Geschlecht, dass sie über Handlungen ausdrücken, sondern stellen es täglich über Körperinszenierungen, Interaktionen und Praktiken her. Die vermeintliche Naturhaftigkeit von Geschlecht ist ein Effekt der Konstruktion und des Verdeckens dieser Konstruktionsleistung. Die Konstruktion erfolgt durch ein Zitieren der vorhandenen Geschlechterordnung und ist an die Wiederholdung von bestehenden Bedeutungen und Normen gebunden.
Geschlecht ist die psychisch verwurzelte Wiederholung einer Norm, da das Herstellen von Geschlecht kein Teil bewusster Überlegungen und prüfenden Nachdenkens ist. Die Identifizierung, Inszenierung und Kategorisierung von Menschen nach Geschlecht verläuft präreflexiv, das heißt, sie ist im Alltag (meist) kein Gegenstand reflektierender Auseinandersetzung.
Die Philosophin Judith Butler bezeichnet diese zwanghaft eingeforderte Wiederholung von sozialen Normen und Konventionen als „Performativität“. Geschlecht wird demnach als eine performative Aktivität verstanden, die hervorbringt, was sie angeblich ist.
Nach Butlers Theorie der Subjektivation kennzeichnen sich Subjekte durch ihre fundamentale Verwiesenheit auf andere, was bedeutet, dass sie Anerkennung von anderen Subjekten begehren und die daraus resultierende Offenheit sie empfänglich für Machtausübungen macht.
„In einer Gesellschaft, in der heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit als zentrale Ordnungskategorie wirkt und als natürlich gilt, entwickeln Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein Eigeninteresse daran, sich eindeutig als Mädchen oder Junge, Frau oder Mann, homosexuell oder heterosexuell zu begreifen.“ (Hartmann 2002, S. 60f.)
Subjekte arbeiten demnach an ihrer eigenen Subjektivität mit. Um intelligible, also anerkennbare Positionen einnehmen zu können, müssen sie bestimmte Lebens-, Liebes- und Begehrensformen verwerfen. Die aktuell zur Verfügung stehenden gesellschaftlich-kulturellen Diskurse bedingen dabei ihr geschlechtliches und sexuelles Selbstverständnis. Die Verlustspuren der verworfenen Anteile werden im Gefühl der Melancholie aufbewahrt und bieten ihnen später potenzielle Anlässe für ein Aufbegehren gegen die Normen.
Die Soziologin Andrea Maihofer bezeichnet Geschlecht als hegemonialen Diskurs und gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise, um Geschlecht und Sexualität in radikaler Weise als etwas gesellschaftlich Hervorgebrachtes begreifbar zu machen, und gleichzeitig die Realität der vorgefundenen Existenzweisen im Blick zu behalten. Zusammen mit einem performativen Geschlechterverständnis lässt sich die menschlich wahrgenommene Realität infolgedessen als eine imaginäre bezeichnen: Der hegemoniale Geschlechter- und Sexualitätsdiskurs gibt den menschlichen Vorstellungshorizont für Erfahrungen und Identitäten vor und übt in seiner binären Strukturierung den Effekt einer „zwanghaften Einschränkung“ auf die Wahrnehmungsmuster aus. Der Begriff „Existenzweise“ betont die Realität des Imaginären: Als real gelebte Denk-, Fühl- und Handlungsweisen und Körperpraxen werden Geschlecht und Sexualität zu materialisierten Effekten diskursiver Prozesse.
Darüber hinaus können Geschlecht und Sexualität als gesellschaftliche Ordnungssysteme verstanden werden, da sie in sozialen Institutionen wie der Familie eingelagert sind und über ein Kategorisieren von Individuen funktionieren. Dies verweist zum einen auf ein Subjektverständnis, dementsprechend sich Menschen nicht jenseits hegemonialer Diskurse konstituieren, und zum anderen auf die zentrale Funktion von Geschlecht und Sexualität zum Erhalt übergreifender gesellschaftspolitischer Machtstrukturen. Die normative Verbindung von „sex-gender-desire“, also bei der Geburt zugeordnetem Geschlecht, sozialem Geschlecht und sexuellem Begehren, fungiert so als funktionales gesellschaftliches Herrschaftsinstrument.
Quellen:
HARTMANN, Jutta (2002): Vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform. Kritischdekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
KLEINER, Bettina (2015): subjekt bildung heteronormativität. Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und trans*Jugendlicher. Studien zu Differenz, Bildung und Kultur. Opladen [u.a.]: Budrich, Barbara.
SCHMIDT, Renate-Berenike / Sielert, Uwe (2008): Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim: Beltz Juventa.